Quelle
(iz). Nach den Ereignissen in der Silvesternacht am Kölner
Hauptbahnhof und den sich anschließenden öffentlichen Diskussionen
müssen wir festhalten, dass unser Land, unsere Gesellschaft, ein
gravierendes und in seiner unheilvollen Entwicklung besorgniserregendes
Problem hat.
Es ist nicht das Problem der aus einer Menschenmenge heraus verübten
Straftaten. Das Phänomen der kollektiven sexuellen Übergriffe mag in
seiner zeitlichen und örtlichen Konzentration ein neues Tatgeschehen
sein. Die Übergriffe sind schockierend und ein Horrorszenario für jede
rechtstreue Bürgerin und jeden rechtstreuen Bürger – gleich welcher
Herkunft, gleich welchen Glaubens. Unsere Sicherheitsbehörden werden die
Konsequenzen daraus ziehen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung
in zukünftigen vergleichbaren Situationen besser gewährleisten. Die
Politik wird ihre Verantwortung tragen und die personellen und
operativen Möglichkeiten der Polizeibehörden verbessern.
Nein, das wesentlich dramatischere Problem entfaltet sich in einem
anderen Bereich. Unser Land, unsere Gesellschaft, unsere Medien und
unsere Personen des öffentlichen Lebens verlieren zunehmend ihren
Instinkt für ein demokratisches Zusammenleben. Wir verlieren unsere
kollektiven Tabus im gesellschaftlichen Miteinander. Unsere
vielbeschworene Wertegrundlage, unsere Grundrechtsordnung, zerbröckelt
in einer rasanten Geschwindigkeit. Diese Entwicklung bleibt nahezu
unbemerkt und wird im öffentlichen Diskurs praktisch nicht thematisiert.
Wir verlieren unsere Sensibilität für den gesellschaftlichen Umgang
miteinander. Dafür, was sich in einer demokratischen Gesellschaft gehört
und was nicht. Dafür, was eine Gefahr für das pluralistische Fundament
unseres Verständnisses von freiheitlicher Gesellschaftsordnung ist.
Anhalts- und Anknüpfungspunkt für diese These ist ein ziemlich
banaler und intellektuell ziemlich irrelevanter Gastbeitrag im Kölner
Stadtanzeiger vom 06.01.2016. Darin skizziert Lale Akgün das Ergebnis
ihrer 5-tägigen geistigen Beschäftigung mit den Vorfällen in Köln. In
dieser von ihrer journalistischen Bedeutung her eher peripheren
Auseinandersetzung mit der Materie wird deutlich, welchem Grad der
Verrohung unsere gesellschaftlichen Normen mittlerweile anheimgefallen
sind.
Deshalb, ganz ohne – eigentlich angebrachtem – Aufschrei und ganz
ohne – eigentlich überfälliger – Empörung, die nüchternen Feststellungen
eines besorgten Bürgers:
Wir driften zusehends in ein gesellschaftliches Klima der
rassistischen Stigmatisierung ab. Die öffentliche Diskussion über die
Ereignisse in Köln wird zur nächsten Eskalationsstufe in der
Desensibilisierung für unser Verständnis einer demokratischen
Gesellschaft.
Wir müssen uns die Entwicklungslinie der antimuslimischen Debatte
noch einmal vor Augen führen, um erfassen zu können, an welchem Punkt
wir angelangt sind. Wir haben begonnen bei einer kulturellen
Negativmarkierung der Knoblauchfresser und Kümmel-Türken während der
Gastarbeitermigration. Danach wollten wir unbedingt im Zuge der
Diskussionen um die doppelte Staatsangehörigkeit „gegen Türken
unterschreiben“. Zwischendurch verbrannten türkischstämmige Frauen und
Kinder in Mölln und Solingen – der Preis der „Asylantenflut“-Hysterie
nach der Wiedervereinigung. Übrigens ein Ereignis, zu dem der damalige
Bundeskanzler seinen Außenminister nach Solingen entsandte, weil er
selbst nicht am „Beileidstourismus“ teilnehmen wollte. Dann, – endlich,
endlich – durfte einmal laut gesagt werden, was weite Teile unserer
Gesellschaft offenbar denken, als wir den Niedergang unseres Landes
beweinen durften, das sich wegen der inzuchtbedingten Minderintelligenz
der Kopftuchmädchen abschafft. Mittlerweile bekommt die kollektive
Pathologisierung und Kriminalisierung der Muslime nicht mehr den
gesellschaftlichen Abscheu, den eine solche Ausgrenzung von ganzen
Bevölkerungsgruppen allein aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Glaubens
in einer aufgeklärten Gesellschaft eigentlich verdient. Nein, ein
solcher Rassismus bekommt mittlerweile den besten Sendeplatz im
öffentlich-rechtlichen Fernsehen und heftet sich – es wird endlich
abgerechnet – das Prädikat einer harten aber fairen Debatte ans Revers.
Muslime, der Islam an sich, insbesondere muslimische
Selbstorganisationen und Religionsgemeinschaften sind die
Projektionsfläche für die Ablehnung und Anfeindung der nichtmuslimischen
Mehrheitsgesellschaft. Wie im Fall Akgün, sind es auch muslimische
Personen des öffentlichen Lebens, die sich mit in vermeintlich
nachdenklichen Sätzen verhüllten Exzessen der Stigmatisierung und
Negativmarkierung an der weiteren Vergiftung des gesellschaftlichen
Klimas beteiligen.
Fakten interessieren dabei gar nicht.
Nach einer Erhebung der European Union Agency For Fundamental Rights
(FRA) hat jede dritte Frau in Europa seit ihrem 15. Lebensjahr
körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt.
Gleichwohl ist für den Typus Akgün im öffentlichen Diskurs „vor allem
der Islam im Blickpunkt“. Die weltweit über religiöse Unterschiede
hinweg vergleichbaren Erfahrungen von Frauen mit sexueller Gewalt werden
ausgeblendet.
Das Narrativ der zivilisatorischen Überlegenheit Europas
beziehungsweise „des Westens“ kann leichter aufrechterhalten bleiben,
wenn im Umkehrschluss alles Negative monokausal „islamisiert“ wird. So
steht nicht in der expliziten Behauptung, sondern in der viel subtiler
geformten Assoziationskette der Akgünschen Ausführungen natürlich fest,
dass es vermeintlich islamisch bedingte „frauenfeindliche Vorstellungen“
sind, die zu den Übergriffen in Köln geführt haben. Nicht das soziale
Milieu der Straftäter in Deutschland, nicht ihre
Persönlichkeitsentwicklung oder andere Faktoren sind Ursachen ihrer
Delinquenz. Nein, es ist der Islam. Widersprüche interessieren dabei gar
nicht.
Wie gefestigt und wirkmächtig mögen „islamische Vorstellungen“ bei
Menschen sein, die Diebstähle begehen? Wie kann es sich um eine
„fundamentalistische Variante des Islam“ handeln, wenn die Straftäter
doch ganz offensichtlich ein eher – wie soll man es sagen – liberales
Verständnis des Alkoholverbots an den Tag legen?
Wenn Frauenfeindlichkeit insbesondere ein Übel islamischer
Vorstellungswelten ist, wie kommt es, dass jahrelang muslimischen Frauen
mitten in Deutschland per Gesetz der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert,
im öffentlichen Dienst an Schulen faktisch verweigert wurde? Warum
haben wir alle jahrelang auf ein Urteil unseres höchsten
Verfassungsgerichtes warten müssen, um zu erkennen, dass hier Frauen in
ihren Grundrechten existentiell verletzt werden? Und warum hat Akgün
diese gerichtliche Korrektur auch noch kritisiert? Und warum halten
einige Bundesländer immer noch an dieser verfassungswidrigen Position
fest?
Wie kann es sein, dass Akgün bei ihrem Versuch der Charakterisierung
der vermeintlich in Moscheen verbreiteten Frauenfeindlichkeit kein
anderes Wort einfällt als „Madonnen“?
Allein diese Tatsache, also die Entlehnung von Begriffen aus der
christlichen Ikonografie und Marienverehrung, macht deutlich, welche
Verrenkungen notwendig sind, um die Projektion des Minderwertigen, des
Verächtlichen, auf das vermeintlich Fremde, nämlich Islamische, zu
bewerkstelligen. Wir sind an einem intellektuellen und moralischen
Tiefpunkt angelangt, an dem dieser Widerspruch nicht einmal einer
Zeitungsredaktion noch auffällt.
Es handelt sich auch nicht mehr nur um eine Petitesse, eine
sprachliche Detailversessenheit des Verfassers dieser Zeilen. Pars pro
toto und exemplarisch für die Schieflage der Islamdebatte vollführt
Akgün diese gedanklichen Luxationen nämlich, um zu ihrem eigentlichen
Thema zu kommen – hier liegt nach der Stigmatisierung von Muslimen die
zweite Ebene der moralischen Verwerflichkeit des Akgünschen Textes. Es
geht gar nicht mehr um die Frauen, die Opfer sexueller Übergriffe am
Kölner Bahnhof geworden sind. Sie taugen Akgün nur noch als Einleitung
für ihr eigentlich intendiertes Ziel und das letzte Glied der
Assoziationskette: die Stigmatisierung der muslimischen
Religionsgemeinschaften.
Dabei ist DITIB als größte muslimische Religionsgemeinschaft ein
willkommener Gegner, lassen sich doch gleich zwei Befindlichkeiten
abarbeiten.
Man muss festhalten, dass – aus welchen unterschiedlichsten Gründen
auch immer – die gegenwärtige türkische Innenpolitik, dabei insbesondere
die aktuellen Amtsinhaber an der Spitze des Staates, wohl niemals zuvor
in der deutschen Innenpolitik ein so leidenschaftlicher
Betrachtungsgegenstand gewesen sind. Die Ablehnung der türkischen
Staatsführung, man muss vielleicht schon von Verachtung sprechen, hat
sich mittlerweile fast zu körperlichen Beschwerden unserer Politiker und
Medien hier in Deutschland gesteigert.
Die Irrationalität dieser Aversion wird in dem Moment deutlich, in
dem diese Ablehnung sich stellvertretend gegen die hiesigen Muslime
richtet, die sich in den knapp 900 Moscheen der DITIB organisieren. Die
Mitglieder und Gemeindebesucher einer inländischen, deutschen
muslimischen Religionsgemeinschaft werden negativ markiert, weil man
eigentlich nur seine Ressentiments gegenüber einer ausländischen
Regierung pflegen möchte – das ist eine Geisteshaltung, die wir hier in
Deutschland eigentlich im späten 19. Jahrhundert nach den
rechtsstaatswidrigen Exzessen des Kulturkampfes abgelegt zu haben
glaubten.
Neben dieser außenpolitischen Komponente hat die Akgünsche
Diskreditierung muslimischer Religionsgemeinschaften noch eine zweite,
religionspolitische Ebene. Lale Akgün ist Mitglied des
Liberal-Islamischen Bundes (LIB) – ein Verein, der sich als
„Repräsentant muslimischer Bürgerinnen und Bürger“ vorstellt, diese
repräsentative Verantwortung aber nur auf zwei Kleinstgemeinden gründet.
Ohne eigene gesellschaftlich relevante muslimische Basis ist solchen
Organisationen die verfassungsrechtliche Bedeutung der muslimischen
Religionsgemeinschaften ein Dorn im Auge.
Wie sonst kann man es schaffen, die Gewalt besoffener Straftäter in
einen ursächlichen Zusammenhang mit der Arbeit von Moscheegemeinden zu
bringen? Für Akgün ist das eine einfache Übung. Und es bedarf nur
weniger Überleitungssätze, von „fundamentalistischen Varianten des
Islam“ über „Diyanet“ zu „DITIB“. Garniert mit „frauenfeindlichen
Vorstellungen“, „pervertierter Sexualität (…) vor unserer Haustür“, „in
Koranschulen schon den Jüngsten serviert“. Fertig ist das Hassobjekt.
So billig ist es mittlerweile im öffentlichen Diskurs geworden, ganze
Angehörige einer muslimischen Religionsgemeinschaft als
frauenverachtende Fundamentalisten zu stigmatisieren. Und der Kölner
Stadtanzeiger ist sich auch nicht zu schade, so eine Diffamierung auch
noch als Gastbeitrag zu veröffentlichen.
Fakten interessieren auch hier nicht.
Dass die DITIB-Satzungen die Mitgliedschaft von mindestens zwei
Frauen in den Gemeindevorständen vorsehen? Weiß Akgün wahrscheinlich
nicht einmal. Dass die Vorsitzende der Frauengruppe in den
Moscheegemeinden geborenes Mitglied des Moscheevorstandes ist? Ihr
vermutlich unbekannt. Dass sich die weiblichen Mitglieder aller
DITIB-Moscheegemeinden in Landesfrauenverbänden und im
Bundesfrauenverband organisieren und bis in die Bundesebene hinein
Einfluss auf die Religionsgemeinschaft nehmen? Geschenkt. Dass von den
Moscheegemeinden über die Landesverbände bis hin zum Bundesverband in
der Jugendarbeit alle Vorstandsposten der Jugendgruppen zur Hälfte mit
Mädchen und Frauen besetzt sind? Egal. Dass die Gründungsvorsitzende des
Bundesjugendverbandes – horribile dictu! – eine Frau war? Passt nicht
ins Weltbild.
Die Abstinenz von Fakten, Aufrichtigkeit und des gesunden
Menschenverstandes in der Islam-Debatte führt zu einer grundsätzlichen
Bereitschaft zur Übernahme stigmatisierender und verächtlichmachender
Zuschreibungen, die in ihrer Quantität und der aktuellen Qualität eine
Dimension erreicht hat, vor der wir zurückschrecken müssen.
Eine immer bedrohlichere Rhetorik bedient sich immer exzessiverer
Markierungen. Mit sachlicher Kritik hat das nichts mehr zu tun. Solche
ausgrenzenden, diffamierenden Texte wie die Akgüns und vergleichbare
Äußerungen im öffentlichen Diskurs wirken als geistige Brandsätze und
Rechtfertigung für konkrete Straftaten.
Und die namentliche Anfeindung muslimischer Religionsgemeinschaften
bleibt nicht folgenlos. Im vergangenen Jahr gab es laut offiziellen
Angaben 77 Angriffe auf Moscheeeinrichtungen und muslimische
Gebetsräume. Davon waren allein 48 Moscheen der DITIB betroffen. Von
keinem Fall ist bekannt, dass sich Frau Akgün öffentlich dazu in
ähnlicher Besorgnis geäußert oder der DITIB ihren Beistand bekundet
hätte.
Hinzu kommen bis letzten Dezember 895 Angriffe auf
Flüchtlingsunterkünfte. Es ist zu vermuten, dass auch in diesen Fällen
eine antimuslimische Motivation zumindest mitursächlich gewesen ist.
Muslime sind auch Bürger dieses Landes. Ihre Organisationen und
Religionsgemeinschaften sind Teil unserer Zivilgesellschaft. Es ist auch
ihr gutes Recht, unbelästigt und ungehindert zu leben. Dafür werden
Rechtsstaat und Polizei hoffentlich sorgen – noch gelingt ihnen das
nicht, wie man den obigen Zahlen entnehmen kann. Auch die
Öffentlichkeit nimmt kaum Anteil an dieser Gefährdungslage.
Indes haben wir in weiten Teilen der öffentlichen Debatte mit Blick
auf unser Ideal einer freiheitlichen und pluralistischen
Gesellschaftsordnung eine Verrohung und ethische Erosion zu beklagen,
die in der bundesrepublikanischen Vergangenheit ihres Gleichen suchen.
Das zu erkennen und dem entgegenzuwirken, muss uns allen ein Anliegen
sein – gerade auch einer Mitarbeiterin der nordrhein-westfälischen
Staatskanzlei wie Lale Akgün.
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