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Von PETER VONNAHME, 31. Januar 2015 -
Millionen
behaupteten am 11. Januar 2015, dass sie Charlie sind („Je suis
Charlie“). Die meisten von ihnen hatten bis zur Nachricht über die
Ermordung der zehn Journalisten keine Ahnung, dass es eine
Satirezeitschrift namens Charlie Hebdo überhaupt gibt. Dessen ungeachtet nahmen sie über Nacht eine neue Identität an.
Der Charlie-Hype
Heute ist Charlie Hebdo
weltbekannt. Die Auflagenzahl verhundertfachte sich und die Exemplare
reichten trotzdem nicht aus. Hinz und Kunz waren Präsident Hollandes
Einladung zum Marche Républicaine gefolgt. Fast alle waren sie da, die
man dort erwarten konnte: die EU-Repräsentanten Juncker, Schulz und
Tusk, die Regierungschefs Cameron, Merkel, Renzi, Rajoy, aber auch
handverlesene Lichtfiguren im Kampf für die Menschenrechte wie etwa
Netanjahu, Poroschenko und Orban, selbstverständlich auch der
NATO-Generalsekretär. Sie haben – wohlabgeschirmt von der marschierenden
Menschenmenge – in einer abgesperrten Straße medienwirksam für Presse-
und Meinungsfreiheit posiert. Die Fake-Bilder haften im Gedächtnis, sie
sind Ausdruck eines Medienschwindels und einer beklemmender Doppelmoral.
Unausgesprochen war auch die Bedrohung durch islamistische Terroristen
in den Köpfen der Trauermarschierer.
Zwei
Große fehlten in Paris, Putin und Obama. Da der russische Präsident die
Menschenrechte nicht zu seinem Markenzeichen erkoren hatte, konnte man
sein Fehlen verschmerzen. Aber US-Präsident Barack Obama,
Friedensnobelpreisträger und Guantanamo-Betreiber (Prantl: „Häuptling
gespaltene Zunge“), ist er etwa nicht Charlie?
Er, der
ebenso hingebungsvoll wie erfolglos mit Drohnen, Kampfjets und
CIA-Agenten für die „westlichen Werte“ kämpft? Sein Fehlen war ein
Fehler, hört man aus dem Weißen Haus.
Inzwischen
ist der Entrüstungsorkan der ersten Tage abgeflaut. Fähnchen und
Transparente mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ setzen in Kellerräumen
Staub an. Das ruhige Nachdenken kann beginnen.
Angesichts der Tragik des Geschehens und der großen internationalen Solidarität drängt sich die Frage auf:
Muss jeder rechtschaffene Mensch Charlie sein?
Meine Antwort vorweg: nein! Doch vermutlich ist das eine Mindermeinung. Seit dem Anschlag hat die westliche Welt ihr Herz für Charlie Hebdo
entdeckt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Denn anstößige Bilder
über Jesus und den Papst werden im christlichen Abendland üblicherweise
in der Luft zerrissen – vor allem von denen, die beim Marche
Républicaine in der vordersten Reihe standen. Warum darf man Mohammed
lächerlich machen und Jesus nicht?
Es riecht nach Heuchelei.
Die
Morde an den Journalisten sind grauenvoll und Zeichen heilloser
geistiger Verirrung. Wer immer die Täter waren, es waren Verrückte,
fernab von ihrer Religion.
Die
Freiheit der Presse ist ein hohes Gut. Das gilt auch dann, wenn
wesentliche Teile der Medien hierzulande von ihrer verfassungsrechtlich
verbürgten Freiheit nur noch unzulänglich Gebrauch machen und sich
stattdessen zum Büttel der Staatsmacht erniedrigen. Der Verlust an
verlässlicher Information ist schmerzlich. Charlie Hebdo ist
nicht eingeknickt. Das Magazin zeigte immer Zähne, oft auch Geifer, es
war bissig und provokant, was ihm letztlich zum Verhängnis wurde.
Natürlich
gibt es auch ein Recht auf religiöse Satire. Ihr muss es erlaubt sein,
scheinheiligen Glaubensgemeinschaften, kriminellen Klerikern und
bigotten Gläubigen schonungslos den Spiegel vorzuhalten. Nach meinem
Verständnis gibt es aber kein Recht auf Verletzung religiöser Gefühle.
Es ist
nicht Aufgabe der Satire, zentrale religiöse Symbole wie Jesus oder
Mohammed verächtlich zu machen. Auch Menschen, die – wie ich – auf keine
religiöse Stimme hören, wissen, dass es eine Grenze gibt, wo Spaß
aufhört. Sie wissen, dass es für Gläubige einen Kernbereich gibt, der
ihnen heilig ist. Diese Grenze muss man auch in einer libertären
Gesellschaft nicht überschreiten. Und genau das tat bzw. tut Charlie Hebdo.
Seine Karikaturen sind häufig verletzend. Wer gläubige Muslime kränken
will, muss nur den Propheten oder den Koran verächtlich machen. Die
Redakteure von Charlie Hebdo wussten das. Sie haben
absichtsvoll Muslime weltweit tief getroffen und heftige Reaktionen in
Kauf genommen. Der Hinweis der Charlie-Verteidiger, dass die Redakteure
mit anderen Religionen nicht schonender umgegangen seien, mag richtig
sein, aber das macht die Sache nicht besser. Die unterschiedliche
Reaktion auf Beleidigungen liegt darin, dass in der westlichen Welt die
religiöse Verankerung nicht mehr so fest ist und dass man deshalb mit
solchen Verletzungen im Regelfall gelassener umgeht.
Wenn
man der größeren Verletzbarkeit der muslimischen Welt mit mehr Empathie
begegnen würde, wäre das nicht Ausdruck von Feigheit oder gar
Kapitulation. Es wäre nur Respekt vor anderen Überzeugungen. Kluge
Selbstbeschränkungen sind uns nicht fremd: Kein halbwegs normaler Mensch
findet Witze über den Holocaust lustig. Dies ist zwar nicht religiösen
Gefühlen geschuldet, wohl aber der Rücksichtnahme auf die Verletzbarkeit
anderer. Da Charlie Hebdo zu diesem Feingefühl offensichtlich nicht fähig ist, lautet meine Antwort: Je ne suis pas Charlie.
Aber
nochmals, die Ermordung der Redaktionsmitglieder ist eine
zivilisatorische Katastrophe. Damit ihr Tod nicht völlig sinnlos ist,
muss er Anlass zu einer ungeschminkten Ursachenforschung sein.
Wir sind die Guten
Eine
ehrliche Gewissenserforschung zeigt, dass der freie, auf einer
vermeintlichen „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“ aufbauende
Westen in eine beängstigende, ja gefährliche Selbstgefälligkeit
verfallen ist. Wir sprechen es zwar nicht offen aus, aber wir lassen
keinen Zweifel daran: Wir sind die Guten. Wer nicht mitspielt, ist der
Böse. Der Vorteil ist, dass diese Weltsicht einfach, der Nachteil, dass
sie konfliktträchtig ist.
Wir
feiern die westlichen, freiheitlichen, demokratischen Werte.
Gleichzeitig wird im Namen von Freiheit und Demokratie weltweit gemordet
und gefoltert. Viele Staatschefs, die das Banner der Freiheit und der
Gerechtigkeit bei öffentlichen Anlässen hochhalten, treten diese Werte
im Politalltag mit Füßen. Neuerdings (Krimkonflikt) sprechen sie sogar
wieder vom Völkerrecht. Während der westlichen Kriege etwa in
Jugoslawien, Afghanistan, im Irak und in Libyen fristete es ein
Schattendasein.
In den
letzten 15 Jahren wurden Hunderttausende in Bosnien, in Afghanistan, im
Irak, in Gaza, in Libyen und in Syrien Opfer völkerrechtswidriger
Kriege. Auch heute noch werden nur wenige Flugstunden entfernt täglich
viele Menschen von Kugeln, Granaten, Bomben und Drohnen zerfetzt. Andere
verhungern, sterben auf der Flucht oder ertrinken im Mittelmeer. Im
Donbass werden unschuldige Menschen Opfer westlicher Expansionspolitik.
In Palästina wird Menschen durch ein selbstsüchtiges Besatzungsregime
Land und damit die Zukunft geraubt. Bei all dem sind wir, die Guten,
entweder Täter oder wir sehen tatenlos zu. Wo bleiben angesichts dieses
Unrechts und dieses Elends die Millionenaufmärsche in unseren
Hauptstädten? Wo die Sondersendungen im TV? Und wo die Schweigeminuten
im Weltsicherheitsrat?
Nichts
dergleichen! Denn die Menschen in Afghanistan und im Irak starben und
sterben, so wurde uns versichert, für unsere Freiheit und für unsere
Sicherheit und natürlich für die Demokratie (die sie gar nicht wollten).
Andere wurden Opfer von barbarischen „Vergeltungsaktionen“ oder von
„humanitären Interventionen“. Wieder andere hatten einfach Pech, sie
wurden zu Kollateralschäden. Wenn in Afghanistan oder in Pakistan
Teilnehmer von Hochzeitsgesellschaften oder ganze Schulklassen durch
US-Drohnen in Stücke gerissen werden, dann betonen US-Militärsprecher
achselzuckend, es habe der Verdacht bestanden, dass sich
al-Qaida-Mitglieder unter die Anwesenden gemischt hätten. Selbst wenn es
so wäre, ist das ein Freibrief zum Liquidieren?
Wurde
in all diesen Fällen jemals ernsthaft gefragt, ob die Hunderttausende
wegen unseres unersättlichen Rohstoffhungers oder wegen amerikanischer
Weltmachtsphantasien sterben mussten? Hat man den Unglücklichen je eine
Träne nachgeweint? Nein! Denn wer außerhalb der „Welt der Guten“ Opfer
von Krieg, Terror, Mord und Vertreibung wird, ist nicht der Rede wert.
Er bleibt anonym, sein Ableben schafft es nicht über unsere
Aufmerksamkeitsschwelle. Wer will schon die Folgen eigener Gewalt sehen?
Schon gleich gar nicht können diese Opfer mit öffentlichen
Mitleidsbekundungen rechnen. Das unterscheidet sie von Charlie Hebdo.
Falsche Bilder
Politik
und Medien vermitteln uns seit Jahren den Eindruck, dass wir einer
zunehmenden islamistischen Bedrohung ausgesetzt sind. Die Zahlen
sprächen für sich, sagen sie. Tatsache ist jedoch, dass Täter mit
christlichem oder jüdischem Glaubenshintergrund seit Jahrzehnten
weltweit ungleich mehr Muslime töten als Christen und Juden durch
muslimische Gewalttäter umkommen. Im ersteren Fall nennen wir das
Verteidigung oder gerechter Krieg, im letzteren Fall islamistischen
Terrorismus. Denn wir sind die Guten.
Die
Meinungsmacher sind zu Heuchlern geworden, nicht alle, aber viele der
mächtigen. Ihre Richtschnur ist die Doppelmoral. Unter ihrer Anleitung
haben wir uns heillos verrannt. Denn auch falsche Bilder sind
wirkmächtig. Entscheidend ist nämlich nicht, was ist, sondern woran man
glaubt.
Die Doppelmoral der Guten
Wenn
wir eine bessere Welt anstreben, dann müssen wir aufhören, mit zweierlei
Maß zu messen. Doppelmoral ist der Nährboden des Terrorismus.
• Es
ist doppelbödig, wenn wir Anschlagsopfer muslimischer Täter im Herzen
des europäischen Kontinents öffentlich betrauern, die Millionen Opfer
westlicher Weltordnungskriege aber als unvermeidlich hinnehmen.
•
Es ist doppelbödig, wenn nach Verbrechen muslimischer Täter
reflexartig an die muslimischen Verbände appelliert wird „Distanziert
euch, andernfalls werdet ihr in Mithaft genommen!“. Gab es entsprechende
Distanzierungsaufrufe an christliche Gemeinden bei Bekanntwerden der
NSU-Morde an Immigranten?
•
Es ist doppelbödig, wenn wir arabische Diktaturen, die weitab von
unserem Menschenrechtsverständnis leben, mit modernsten Waffen
beliefern, obwohl wir wissen, dass mit ihnen dschihadistische
Organisationen ausgerüstet werden, die unsere Werte brutal bekämpfen.
Dass wir dafür Öl und blutverschmiertes Geld bekommen, macht den Deal
nicht besser.
•
Es ist doppelbödig, wenn wir den das Völkerrecht verachtenden Staat
Israel mit atomar ausrüstbaren U-Booten beschenken und bei seinen
Rechtsbrüchen wegschauen. Schwerste eigene Schuld aus dunklen Zeiten
kann dieses Verhalten nicht rechtfertigen.
•
Es ist doppelbödig, wenn wir den USA bei völkerrechtswidrigen Kriegen
Beistand gewähren. Es ist unverantwortlich, weil wir um die Gräuel von
Abu Ghraib, Guantanamo und sonstiger Foltergefängnisse sowie um die
garantierte Straflosigkeit der politisch Verantwortlichen wissen.
•
Es ist doppelbödig, wenn wir den grauenvollen Massenmord des
christlich-fundamentalistischen Psychopathen Anders Breivik, der Europa
vor dem Islam schützen wollte, anders bewerten als Gewaltakte
muslimischer Terroristen. Damals gab es nämlich trotz der 77 Mordopfer
keinen internationalen Trauermarsch vergleichbar dem von Paris. Was wäre
aber gewesen, wenn kein Norweger, sondern ein Araber den Massenmord
begangen hätte? Die Hysterie wäre vermutlich grenzenlos gewesen.
•
Und ja, es ist auch doppelbödig, wenn wir terroristische Attentäter
stereotyp als feige und hinterhältig bezeichnen. Ist es etwa mutiger,
wenn ein Todesvollstrecker im sicheren Befehlsstand auf einen Knopf
drückt, um einen in großer Entfernung vermuteten Gotteskrieger mittels
Drohne zu ermorden? Im Übrigen ist das, was bei uns als feige und
hinterhältig eingestuft wird, die Folge davon, dass die terroristischen
Einzeltäter weder über Drohnen noch über Jagdflugzeuge und Kampfpanzer
verfügen. Es ist zu vermuten, dass sie ihre zur Selbstvernichtung
führenden Sprengstoffgürtel gerne gegen modernes Kriegsgerät austauschen
würden. Auch Sprache ist kennzeichnend für Doppelmoral.
Was tun?
Die
Politik und ihre Spiegelung in den Medien muss ehrlicher werden. Es ist
nämlich perspektivisch von zweifelhaftem Nutzen, die Toten von Charlie Hebdo
für taktische Vorteile zu instrumentalisieren. Das löst die Probleme im
Nebeneinander von islamischer und westlicher Welt nicht.
Erinnern
wir uns! In den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg fühlte niemand
eine islamistische Bedrohung. Die Menschen im Westen waren mit der
geschürten Angst vor den Russen und dem Kommunismus voll ausgelastet.
Als die Sowjetunion und der Warschauer Pakt zerbrochen waren, wurde
unser Bewusstsein auf neue Gefahren eingestimmt (Islamismus,
Dschihadismus, Salafismus, Gotteskrieger). Bündnisse wie die NATO
brauchen zur eigenen Legitimation ein Bedrohungsszenario.
Vor
diesem Hintergrund lohnt es sich, über mögliche Beweggründe der
Charlie-Mörder nachzudenken. Wenn es tatsächlich die Kouachi-Brüder
gewesen sind, kann man sie leider nicht mehr befragen. Denn sie wurden
erschossen. Wir können nur noch mutmaßen.
Der
Koran enthält andere Glaubensanweisungen als die Bibel der Christen.
Doch allein deswegen werfen junge Männer nicht ihr Leben weg.
Andernfalls hätte es das Phänomen des islamistischen Terrorismus auch
früher geben müssen. Das legt nahe, dass zum Glauben andere Tatmotive
hinzukommen müssen: Kränkungen, Erniedrigungen, Entrechtung,
Ausgrenzung, Ausbeutung, Zerstörung von Lebensgrundlagen, Armut,
Hoffnungslosigkeit. Raum für solche Motive gibt es im Umgang mit der
muslimischen Welt genügend. Fehlende Sensibilität hierfür rächt sich.
Sie gebiert nämlich das, was uns später in Form des sogenannten
Terrorismus entgegentritt. Wenn es dem Westen wirklich um Befriedung und
nicht um Dominanz geht, dann muss er seine Politik von Grund auf
überdenken. Außerdem muss er mit den Ländern des Nahen Ostens und mit
dem Islam über die genannten Zusammenhänge sprechen – und zwar
aufmerksam und auf Augenhöhe. Unsere Staatsführer müssen über
Substanzielles reden und nicht nur überlegen, wie man Terroristen wie
lästiges Ungeziefer vernichten kann. Nur ehrlicher Dialog führt zu
Verstehen und geistiger Abrüstung. Das geht nicht ohne Respekt für
andere Sichtweisen. Im Bereich der Religion sollte das unschwer möglich
sein, hier gibt es kein falsch oder richtig, sondern nur glauben oder
nicht glauben. Das ist die Spielwiese der Toleranz. Doch auch im
diesseitigen Leben muss allmählich die Einsicht reifen, dass unsere
westlichen Vorstellungen nicht schlechthin für andere Kulturen Maßstab
bildend sind. Wir können unsere Lebensformen anbieten, sie erklären und
für sie werben. Aber herbeibomben lässt sich Akzeptanz nicht.
Fehlende Strategie
Selbst
wenn man zugunsten des Westens unterstellen würde, dass es ihm in den
letzten Jahrzehnten nicht zuvörderst um militärische Vorherrschaft und
Ressourcensicherung gegangen ist, kommt man an einer ernüchternden
Feststellung nicht vorbei: Der aufgeklärte Westen hat keine tragfähige
Strategie für den Frieden entwickelt. Reaktion prägt sein Denken. Wo
Weltinnenpolitik gefragt wäre, wird in militärischen Zusammenhängen
gedacht.
Die politischen und medialen Schnellschüsse nach Charlie Hebdo
sind bezeichnend: mehr Polizei, bessere Überwachung,
Informationsaustausch, Vorratsdatenspeicherung, Geheimdienst,
Militäreinsatz, Hubschrauber, Waffen, Straßensperren. Kurzum:
Terrorabwehr mit Hardware. Der Chef des Springer-Konzerns, Döpfner,
brachte es auf den Punkt. Er machte den Tag der Pariser Attentate zum
europäischen 9/11. Das ist ein Fanal zum neuen war on terror.
Die Pariser Morde werden benutzt, um die eigene Bevölkerung auf mehr
Kampfbereitschaft einzustimmen. Angemahnt wird die Bereitschaft,
Freiheit zugunsten von mehr Sicherheit zu opfern. Schon Benjamin
Franklin wusste, dass man bei diesem Geschäft am Ende beides verlieren
wird.
Im
Wortschatz der Mächtigen fehlen die Worte Ursachen- und
Konfliktforschung, Psychologie, Dialog, Respekt, Verständigung,
Ausgleich. Der Mangel an kreativer Phantasie ist bedrückend und
verspricht nichts Gutes. Natürlich muss verantwortliche Politik für die
Sicherheit der Menschen alles tun, was möglich ist. Aber das darf nicht
bei polizeistaatlichem Denken enden. Friedenspolitik ist auf lange Sicht
die einzig Erfolg versprechende Option. Solange wir glauben, wir
könnten unsere sogenannten westlichen Werte mit Panzern und Drohnen
schützen, werden wir keine Ruhe bekommen.
Neben
einer Langzeitstrategie ist Mut zur Ehrlichkeit vonnöten.
Sicherheitspolitiker dürfen nicht müde werden, den Menschen zu erklären,
dass es einen absoluten Schutz vor durchgeknallten Straftätern nicht
geben kann – und zwar auch dann nicht, wenn man bereit ist, wesentliche
Teile der persönlichen Freiheit abzugeben. Beiläufig muss auch das von
konservativen Staatsrechtlern herbeigeschriebene „Grundrecht auf
Sicherheit“ auf der Müllhalde der hartnäckigen Irrtümer entsorgt werden.
Unser Grundgesetz verbürgt ein Grundrecht auf Freiheit, aber nicht auf
Sicherheit. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen Übergriffe des Staates.
Sie können keinen Schutz gegen Verbrechen à la Charlie Hebdo gewährleisten. Wirklichen Schutz kann nur gute Politik geben.
Ein Nachwort zum Journalismus
Der „Qualitätsjournalismus“ hat (von ein paar Ausnahmen abgesehen) rund um Charlie Hebdo
das geleistet, was kritische Beobachter von ihm erwartet haben, nämlich
nichts. Er hat die Erklärungsmuster und Rezepturen der Politik treulich
nachgebetet. Er war unkritisch bis hin zur Servilität. Wo Nachfragen am
Platz gewesen wäre, duckte sich die Journaille bequem ab.
Nur
weil zwei Vermummte „Allahu akbar“ riefen und einer von ihnen im
Fluchtauto seinen Personalausweis vergessen hatte, war für die Polizei
die Täterfrage rasch geklärt. Diese Hochgeschwindigkeitstäterermittlung
erinnert an 9/11, wo auf den qualmenden Trümmerhaufen der Twin Towers
der Ausweis eines Attentäters gefunden worden ist. Duplizität der
Ereignisse, irgendwie merkwürdig, nicht wahr? Kontrollfrage: Wie oft
habe ich in den letzten zwanzig Jahren meinen Ausweis im Auto liegen
lassen, vergessen, verloren?
Investigativem
Journalismus hätte es auch gut angestanden nachzufragen, weshalb die
Täter beim Verlassen des Hauses, in das sie geflüchtet waren,
erschossen worden sind. Hätte man ihrer nicht auch lebendig habhaft
werden können? Das entspräche rechtsstaatlichen Standards und hätte
Antworten auf viele interessante Fragen erwarten lassen.
Doch
solche Feinheiten sind nicht Sache des real existierenden Journalismus.
Er schmiegt sich geschmeidig an die herrschenden politischen Zerrbilder.
Im Fall Charlie Hebdo sah er seine Aufgabe darin, vorhandene
Islamfeindbilder beflissen aufzunehmen und zu verstärken sowie der
Weltöffentlichkeit das Bild von inniger Geschlossenheit zwischen dem
Volk und seinen Führern zu vermitteln. Man könnte den Eindruck haben,
dass manch bekannter Journalistenmime Angst vor den dunklen Abgründen
hat, die eigenständiges Denken sichtbar machen kann.
In
Anlehnung an Marx und Engels möchte man ihnen allen zurufen: Heuchler
aller Schreibstuben, vereinigt euch! Und geht dann gemeinsam in den
Ruhestand ...
Über den Autor:
Peter Vonnahme war bis zu seiner Ruhestandsversetzung 2007 Richter am
Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Er ist Mitglied der
deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against
Nuclear Arms. Von 1995 bis 2001 war er zudem Mitglied des
Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung. In den letzten Jahren war
er publizistisch tätig.
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