Quelle
Wir sprachen am Telefon über die immer bedrückender werdenden
Zustände in Palästina und speziell im Gazastreifen. Weil dieses Leid
hinter den sonstigen schrecklichen Leiden der Flüchtlinge zu
verschwinden droht, bat ich Jürgen Todenhöfer darum, den
NachDenkSeiten-Leserinnen und -Lesern seinen Bericht zugänglich zu
machen. Hier ist er.
Wir übernehmen ihn mit großem Dank und im Gefühl
der Verbundenheit mit einem ehemaligen Bundestagskollegen, der nicht nur
berichtet und schreibt, sondern bei seinen Recherchen und Reisen
persönlich viel riskiert.
„HERR NETANJAHU, REIßEN SIE DIE MAUERN EIN!“
EINE REISE NACH GAZA.
Eigentlich hatte ich mich auf diese vierte Reise nach Gaza besonders
gefreut. Schließlich wollte ich für die Kinder von Gaza einen
Spielplatz, einen Fußballplatz und einen Frischwasserbrunnen einweihen.
Finanziert mit dem Honorar meines Buches „INSIDE IS -10TAGE IM
ISLAMISCHEN STAAT“. Immerhin 135.000 Euro.
Doch nach über einer Woche Gaza kehre ich tief deprimiert nach Hause
zurück. Trotz der leuchtenden Augen der Kinder bei der Einweihung der
Spiel- und Sportplätze am vergangenen Dienstag. Und trotz der
unbeschreiblichen Herzlichkeit der Menschen in Gaza gegenüber uns Gästen
aus Deutschland. Den Gazanern geht es heute noch schlechter als vor
einem Jahr. Weil sie keine Hoffnung mehr haben. Keine Perspektive, kein
Licht am Ende des Tunnels. Sie haben jeden Glauben an die Zukunft
verloren.
DER VERGESSENE KRIEG
2014 war Gaza von Netanjahu in Grund und Boden gebombt worden. Über
2.100 Palästinenser waren getötet, 11.000 verletzt worden. Mehr als
12.000 Häuser wurden total zerstört, über 6.000 so schwer beschädigt,
dass sie unbewohnbar sind. Ich war während des Krieges 8 Tage im
eingekesselten Gaza. Und habe die schrecklichen Bombennächte miterlebt.
Nach dem Krieg hatte es in Gaza zunächst Hoffnung gegeben. Auf eine
Öffnung der Grenzen, vielleicht sogar einen längerfristigen
Waffenstillstand. Außerdem hatte die Welt versprochen, Gaza schnell
wieder aufzubauen. Mit über 3.5 Mrd. US-Dollar. Weitere 1.5 Mrd. sollten
das Westjordanland und Ramallah erhalten.
NICHT GEHALTENE VERSPRECHEN
Von den versprochenen 3.5 Mrd für Gaza kamen bisher weniger als 30
Prozent an. Nur ganz wenige Staaten wie Deutschland hielten ihre Zusagen
ein. Nach UN-Angaben vor Ort leistete die Bundesregierung bisher 112
Mio Euro. Bravo! Doch gleichzeitig lieferte die Bundesregierung Israel
das fünfte von sechs ‚Atomwaffen-fähigen U-Booten‘. Subventioniert mit
rund 165 Mio. Euro, Geldern des deutschen Steuerzahlers. Außerdem
sicherte sie Israel vier weitere Kriegsschiffe für die nächsten 5 Jahre
zu. Subventioniert mit 115 Mio. Steuergeldern. Nein, wir stehen nicht
wirklich auf der Seite der Palästinenser.
Noch immer gibt es kaum Jobs, kaum Elektrizität, kaum Trinkwasser,
kaum Medikamente. Viele der Ruinen sind inzwischen mit riesigen
Bulldozern beseitigt worden. Das hat das Bild Gazas optisch etwas
verändert. Zwischen den übrig gebliebenen Ruinen entstehen endlich
private Neubauten. Doch die Menschen müssen sich hierzu oft bis auf den
letzten Schekel verschulden. Die meisten Neubauten finanziert jedoch
Qatar, das sogar einen Wiederaufbau-Botschafter nach Gaza entsandt hat.
Aber auch Qatar wird ’nur‘ 1000 neue Häuser bauen. Das sind 8 Prozent
der zerstörten Häuser. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Insgesamt
werden zur Zeit lediglich 10 und 12 Prozent der zerstörten Häuser wieder
aufgebaut.
Manche der ausgebombten Menschen in Gaza haben nur einige Zimmer
ihrer Ruinen repariert. Zu mehr reicht es meist nicht. Und auch das geht
nur zu Lasten ihrer ohnehin ärmlichen Lebenshaltung. Es gibt dann eben
keine neue Hose für die Kinder, keinen Anorak gegen die Kälte im
kommenden Winter. Bei einer Familie, die wir besuchten, wurde selbst der
Wachhund abgeschafft. Ein alter Hahn übernahm seine ‚Funktionen‘.
DEN INTERNATIONALEN HELFERN GEHT ES GUT
Die diplomatischen Vertreter des Westens residieren in luxuriösen
Botschaften in Tel Aviv. Die europäischen ‚Wiederaufbau-Beobachter‘
sitzen im eleganten israelischen Badeort Aschkelon. Dort klagen sie auf
Cocktailparties bei Whiskey und Champagner, dass alles so kompliziert
sei. Und so gefährlich. In Gaza zu leben und vor Ort die Probleme des
Landes zu lösen, ist ihnen zu mühsam. Die Palästinenser halten diese
‚Wiederaufbau-Beobachter‘ angesichts ihrer hohen Gehälter und ihres
schönen Lebens für eine ‚Diebesbande‘.
DIE FEIGHEIT DES WESTENS
Bei den Gazanern wächst die Angst vor einem weiteren Krieg. Denn an
das Grundproblem der israelischen Palästina-Politik wagt sich keiner
heran. Kein US-Präsident sagt – ähnlich wie einst Ronald Reagan vor der
Berliner Mauer: „Herr Netanjahu, reißen Sie die Mauern ein! Geben Sie
Gaza und Palästina die Freiheit!“ Auch die radikale Hamas würde im
Gegenzug jede sinnvolle Garantie für die Sicherheit Israels abgeben.
Täglich frage ich mich: Hat Deutschland gegenüber Palästina nicht
eine mindestens ebenso große moralische Verpflichtung wie gegenüber
Israel? Zahlen die Palästinenser letztlich nicht den Preis für die
Politik der Nazis. Warum helfen wir ihnen nicht wirklich? Eine faire
Friedenslösung mit Palästina und ein lebensfähiger palästinensischer
Staat liegen doch auch im Interesse Israels!
EIN „MUSTERSTAAT DER TOLERANZ?“
Hatte der geistige Vater des Staates Israel, Theodor Herzl, nicht
einen Musterstaat der Toleranz versprochen? Und geschrieben: „Und fügt
es sich, dass Andersgläubige, Andersnationale unter uns wohnen, so
werden wir ihnen ehrenvollen Schutz und Rechtsgleichheit gewähren“. Nach
all dem, was man den Juden über Jahrtausende an Unrecht und
Diskriminierung zugefügt hatte, war das sehr glaubwürdig.
Ich habe in meiner Jugend fest an dieses Versprechen geglaubt. Als
Deutscher, der weiß, dass unsere Vorfahren gegenüber den Juden im
‚Dritten Reich‘ schrecklichste Verbrechen begangen haben. Der das
Existenzrecht Israels anerkennt. Und der Antisemitismus wie jede andere
Form von Rassismus für erbärmlich hält. Als Jugendlicher habe ich mit
Freunden NPD-Veranstaltungen gestürmt, um den Neo-Nazis all das entgegen
zu schleudern.
Unter Männern wie Netanjahu ist Israel zur Zeit leider das Gegenteil
eines Musterstaats. Intolerant, täglich gegen die Menschenrechte
verstoßend, teilweise offen rassistisch – siehe Liebermann und Co. Oder
sind israelische Gettos wie in Gaza keine Gettos? Ist israelische
Apartheid keine Apartheid? Oder darf man das nicht mehr sagen?
Was unternimmt der Westen gegen die zum Himmel schreiende
Diskriminierung der Palästinenser durch die israelische Regierung?
Nichts! Er macht sich in die Hosen. Niemand will als Antisemit gelten,
das ist extrem gefährlich. Die Welt kämpft gegen das Unrecht der
Mächtigen erst, wenn es vorüber ist. Deshalb wächst der Widerstand gegen
Hitler ja auch ständig.
PALÄSTINENSER DIE JUDEN UNSERER ZEIT?
Die Menschen in Gaza sind so gebrochen, dass sie nicht mehr klagen.
Sie haben verstanden, dass die Welt feige ist. Und nie an der Seite der
Schwachen kämpft. So wie sie nie für die Juden kämpfte, als diese in
höchster Not waren. Die Palästinenser, besonders die aus Gaza, seien die
Juden unserer Zeit, sagen manche. Und die Welt feige wie damals. Völlig
falsch ist das nicht.
Wir sind so feige, dass die Bundesregierung bis heute nicht gegen die
Tötung der 7-köpfigen deutschen Familie Kilani protestiert hat. Die auf
Anweisung der israelischen Regierung während des Krieges in ein
angeblich absolut ‚bombensicheres‘ Viertel Gazas geflohen war. Und dann
in ihrem ’sicheren‘ Haus von israelischen Raketen zerschmettert wurde.
Gibt es irgendeine rechtliche oder moralische Begründung für das
Schweigen unserer Regierung?
DER GAZA-SONG
Am Ende unseres Aufenthaltes in Gaza spielt uns Mahmoud ein
Abschiedslied vor. Mahmoud ist Mitte dreißig. Seine Familie ist während
des Krieges von einer israelischen Rakete schwer verletzt worden. Sein
kleiner Neffe hat den Angriff nicht überlebt. Mahmouds Körper ist noch
immer voller Raketensplitter. Er geht an Krücken. Eine dieser Krücken
hat er zur Flöte umgebaut. Auf ihr improvisiert er ein betörend schönes
Lied. Voll unendlicher Trauer. Gaza Spätsommer 2015
Jürgen Todenhöfer war fast zwei Jahrzehnte Bundestagsabgeordnete der
CDU, dann Medienmanager, heute Publizist. Er engagiert sich über die
Maßen für Frieden im Nahen Osten und anderen Brennpunkten der Welt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen