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Zwei Monate nach den Ereignissen der Silvesternacht in Köln lösen
sich die Anschuldigungen über massenhafte sexuelle Gewalt zunehmend in
Luft auf, die damals tagelang durch die deutsche und internationale
Presse gingen und als Vorwand für eine massive Verschärfung der
Flüchtlingspolitik dienten.
Am vergangenen Mittwoch verurteilte das Amtsgericht Köln vor einem
Aufgebot von 60 Journalisten aus dem In- und Ausland die ersten drei
„Täter“ der Silvesternacht. Die Kölner Justiz war offensichtlich bemüht,
unter Beweis zu stellen, dass sie schnell und hart zuschlagen kann.
Bei den Verurteilten handelte es sich allerdings nicht um
Sexualstraftäter und schon gar nicht um Vergewaltiger, sondern um ganz
gewöhnliche jugendliche Kleinkriminelle. An jedem anderen Ort und zu
jeder anderen Zeit wären sie mit einer Verwarnung davongekommen. „In
normalen Zeiten hätten wir hier in aller Kürze verhandelt“, sagte denn
auch der Staatsanwalt. Es seien aber keine normalen Zeiten.
Der 23-jährige Marokkaner Younes A. stand vor Gericht, weil er einer
Touristin auf dem Bahnhofsvorplatz ein altes Smartphone (Samsung S 3)
aus der Hand gerissen hatte, als diese den Dom fotografierte. Ein
Beobachter stellte ihm ein Bein, und er gab das Handy noch auf dem Boden
liegend zurück. Die Polizei nahm ihn mit zur Wache, wo sie noch ein
Tütchen Amphetamine bei ihm fand.
Wegen diesem Bagatelldelikt verdonnerte Amtsrichter Amand Scholl den
jungen Mann zu einer Haftstrafe von sechs Monaten auf Bewährung und
einer Geldauflage von 100 Euro. Der Richter fragte auch provokativ, ob
Younes A. den Po der Touristin begrapscht habe, obwohl niemand etwas
derartiges behauptet hatte und sowohl die Zeugin wie der Angeklagte den
Vorwurf verneinten.
Richterin Julia Roß verurteilte am selben Tag den 22-jährigen
Tunesier Ahmed M. und den 18-jährigen Marokkaner Samir S. wegen einem
ähnlichen Delikt. Die beiden hatten in der Silvesternacht gemeinsam eine
Kamera gestohlen. Ahmed M. erhielt eine dreimonatige Bewährungsstrafe
und Samir S. droht eine Jugendstrafe, wenn er sich in den kommenden zwei
Jahren etwas weiteres zuschulden kommen lässt.
In einer Großstadt wie Köln finden täglich Dutzende derartiger
Taschendiebstähle statt. Wie der Chef der Kölner Kriminalpolizei Norbert
Wagner Mitte Februar auf einer Pressekonferenz berichtete, weist die
Kölner Kriminalstatistik für 2014 mehr als 14.500 derartige Fälle aus.
Das sind im Durchschnitt 40 Taschendiebstähle pro Tag, wobei die Zahl
bei Großereignissen wie Silvester und Karneval wesentlich höher liegt.
Auch die Dunkelziffer der nicht gemeldeten Fälle dürfte die offizielle
Statistik um ein Mehrfaches übersteigen.
Laut Wagner stammen 8,8 Prozent der Beschuldigten, also noch nicht
einmal jeder Zehnte, aus nordafrikanischen Ländern. Dabei handelt es
sich um ein Phänomen, das seit langem bekannt ist. Einige auf sich
selbst gestellte junge Männer aus Nordafrika, die allein nach Europa und
Deutschland gekommenen sind und kaum Aussicht auf Arbeit oder Asyl
haben, schlagen sich in der Illegalität mit Kleinkriminalität durch. Aus
dieser Szene stammen offenbar die drei, die nun verurteilt worden sind.
Mit den Hunderttausenden Flüchtlingen, die in den vergangenen Monaten
den Kriegen und dem unerträglichen Elend im Nahen Osten und Nordafrika
entronnen sind, hat dieses Milieu nichts oder höchstens ganz am Rande
etwas zu tun. Das hinderte die Medien und zahlreiche Politiker aber
nicht daran, die Ereignisse der Kölner Silvesternacht für eine
unsägliche Hetze gegen Flüchtlinge zu instrumentalisieren.
Die Verfahren vom vergangenen Mittwoch werden nicht die letzten wegen
der Kölner Silvesternacht sein. Bisher deutet aber wenig darauf hin,
dass zukünftige Prozesse viel mehr zutage fördern werden als dieser
erste oder dass sie die aufgebauschten Berichte über massenhafte
Sexualverbrechen bestätigen werden.
In der Neujahrsnacht selbst waren bei der Polizei lediglich rund
hundert Anzeigen, vor allem wegen Sexualdelikten und Taschendiebstählen,
eingegangen, eine Größenordnung, die durchaus im Rahmen solcher
Großveranstaltungen liegt. Erst als in den nächsten Tagen erste Berichte
über Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen und Diebstähle in der Presse
verbreitet wurden, stieg die Zahl der Anzeigen rasant an.
Die meisten Anzeigen gingen nach dem 4. Januar ein. Bis zum 11.
Januar stieg die Zahl auf 550. Mittlerweile meldet die Kölner Polizei
mehr als 1.100 Anzeigen im Zusammenhang mit der Silvesternacht. Laut
Staatsanwaltschaft beziehen sich aber weniger als die Hälfte davon,
insgesamt 440, auf ein Sexualdelikt.
Mitte Februar ermittelten die Behörden gegen 73 Beschuldigte. 15
Verdächtige saßen zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft, aber nur
einer davon wegen des Vorwurfs eines Sexualdeliktes. Bei den beiden
angezeigten Vergewaltigungen konnten laut Polizei keine Täter ermittelt
werden.
Inzwischen äußern selbst Vertreter der Staatsanwaltschaft und der
Polizei Zweifel, wie vielen der eingegangenen Anzeigen tatsächlich
Straftaten zugrunde liegen. Angesichts der massiven Pressekampagne ist
nicht auszuschließen, dass einige maßlos übertrieben sind oder durch
Ausländerfeindlichkeit zustande kamen. Die sozialen Netzwerke sind voll
von solchen Hetztiraden.
„In einem Fall hat die Polizei festgestellt, dass die angezeigte
Sexualstraftat so nicht stattgefunden hat“, sagte ein Sprecher der
Staatsanwaltschaft gegenüber der Huffington Post. Und der
ansonsten nicht als „Ausländerfreund“ geltende Vorsitzende der Deutschen
Polizeigewerkschaft Rainer Wendt wird mit den Worten zitiert:
„Zahlreiche der angezeigten angeblichen Sexualstraftaten von
Flüchtlingen sind erfunden.“
Eine zentrale Rolle bei der Verbreitung der Nachricht über angeblich
massenhafte Sexualdelikte in Köln spielte der interne Bericht eines
anonymen Bundespolizisten vom 4. Januar. Darin war von „zahlreichen
weinenden und schockierten Frauen/Mädchen“ die Rede, die von „sexuellen
Übergriffen durch mehrere männliche Migranten/ -gruppen“ berichteten.
Verdächtige sollen laut dem Bericht zur Polizei gesagt haben: „Ich
bin Syrer, ihr müsst mich freundlich behandeln! Frau Merkel hat mich
eingeladen.“ Flüchtlinge sollen ihre Ausweispapiere vor den Augen der
Polizisten zerrissen und gesagt haben: „Ihr könnt mir nix, hole mir
morgen einen neuen.“
Bis heute ist nicht bekannt, wer diesen Bericht aus welchen politischen oder sonstigen Motiven verfasst hat. Laut Süddeutscher Zeitung
ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft aber inzwischen polizeiintern
wegen einer möglichen Verletzung des Dienstgeheimnisses. Geprüft werde,
wie interne Polizeiberichte in die Medien gelangten.
Dabei werden die Medien auch ganz offiziell von der Polizei mit
Material für ihre Hetze versorgt. Jüngstes Beispiel ist ein Vorgang in
Kiel. Letzten Donnerstag berichtete die dortige Polizei von „massiven
Belästigungen“ dreier Mädchen in einem Einkaufszentrum durch 30
Ausländer. Die Presse griff dies begierig auf und geiferte über einen
„Mob“ von Afghanen, Flüchtlingen und Ausländern.
Vier Tage später lösen sich die Vorwürfe in Luft auf. Augenzeugen
widersprechen den Angaben der Polizei, es habe massive Belästigungen
gegeben. Angeblich von den jungen Männern gemachte Videos und Fotos der
Mädchen finden sich nicht. Von körperlichen Übergriffen sei von Anfang
an nicht die Rede gewesen.
Die Ereignisse in Köln zeigen, wozu Medien, Politik und Polizei fähig
sind, wenn es darum geht, eine Kampagne zur Durchsetzung reaktionärer
politischer Ziele zu organisieren. Die angeblichen sexuellen Übergriffe
wurden gezielt aufgebauscht und für eine hemmungslose rassistische
Kampagne ausgenutzt.
Die gesamten politischen Koordinaten in Deutschland sind weit nach
rechts verschoben worden. Über 70 Jahre nach dem Zusammenbruch des
Dritten Reichs der Nazis zeichnen Berichte und Leitartikel in der Presse
wieder das Bild von gefährlichen und kriminellen ausländischen Horden,
die es einzig darauf abgesehen haben, deutsche Frauen und Mädchen zu
belästigen.
Stefan Aust, Chefredakteur der Welt, verglich die Ereignisse
in Köln sogar mit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September
2001, mit denen die US-Regierung seither ihre Kriege und ihre
Staatsaufrüstung rechtfertigt. In ähnlicher Weise sollen die Kölner
Ereignisse dazu herhalten, den Polizeiapparat aufzurüsten, die
öffentliche Überwachung auszudehnen und vor allem gegen Flüchtlinge und
Ausländer vorzugehen. Bisheriger Höhepunkt ist die Verabschiedung des Asylpakets II,
das nicht nur das Recht auf Asyl zur Unkenntlichkeit zerstückelt,
sondern sich auch direkt gegen alle in Deutschland lebenden Ausländer
richtet.
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