Quelle
Dass die Einführung der Neuen Reifeprüfung (NRP) an mangelndem
medialen Interesse litt, wird man nicht behaupten können: Berichte über
haarsträubende Pannen wurden nahezu im Wochentakt serviert, eine
Verschiebung des ersten Durchgangs um ein Jahr wurde notwendig und
zuletzt überwogen die Meldungen über Schwindeln und Suspendierungen von
LehrerInnen bzw. DirektorInnen bei der unmittelbaren Durchführung.
Wenig Niederschlag in den Medien fanden hingegen Auseinandersetzungen
mit der inhaltlichen Seite der NRP.
Durchführung der NRP
Was den SchülerInnen des
Maturajahrgangs 2014/15 und den sie betreuenden LehrerInnen von den
bildungspolitisch Verantwortlichen zugemutet wurde, war absehbar, wurde
von Schulen seit der parlamentarischen Beschlussfassung artikuliert und
fand in den Medien breiten Widerhall. Aus der Fülle von Fehlleistungen
seitens des Bildungsministeriums seien hier nur drei kurz angeführt:
*
Die Durchführungsbestimmungen für die Vorwissenschaftliche Arbeit und
für die mündliche Reifeprüfung wurden sehr spät bekannt gemacht und
unterlagen selbst dann noch zahlreichen Änderungen. Große Verunsicherung
bei SchülerInnen und LehrerInnen sowie gravierende Unterschiede bei den
Themenkörben der einzelnen Schulstandorte (= von einzelnen LehrerInnen
oder LehrerInnen einer Fachgruppe für die mündliche Matura festgelegte
Themen) waren die Folge.
* Die Durchführungsbestimmungen für den
konkreten Ablauf der Kompensationsprüfung (= mündliche Prüfung mit
zentraler Fragestellung, wenn man schriftlich negativ beurteilt wurde)
kamen zu einem Zeitpunkt, zu dem verantwortungsbewusste
Schuladministrationen die Prüfungstermine bereits längst festgesetzt
hatten: also allen Ernstes genau zwei Tage vor den Prüfungen!
*
Wurde an einzelnen Bestimmungen von LehrerInnen, Eltern oder
SchülerInnen Kritik geäußert (wie zum Beispiel an den Kürzungen der
Vorbereitungsstunden für die mündliche Reifeprüfung oder an wiederholten
Änderungen der Durchführungsbestimmungen, die vorhergehende
Vorbereitungsschritte null und nichtig machten), gab es Spott und Hohn
vonseiten des Ministeriums: Die Vorbereitungen für die Neue Reifeprüfung
lägen im Zeitplan, die LehrerInnen seien darauf bestens vorbereitet,
die Durchführungsbestimmungen seien klar formuliert und transparent und
einem reibungslosen Ablauf der Neuen Reifeprüfung stünde nichts mehr im
Weg. So und ähnlich klangen die Textbausteine, die das Ministerium
besorgten SchulpartnerInnen zur Beruhigung aussandte.
Anzumerken
bleibt aber auch, dass die zum Teil sehr heftigen Attacken der
Oppositionsparteien gegen das Ministerium wegen der stümperhaften
Vorbereitung der NRP nicht einer gewissen Unehrlichkeit entbehrten.
Waren sie es doch auch, die im Oktober 2009 im Parlament den Beschluss
zur NRP mit Start im Schuljahr 2013/14 mitgetragen haben, zu einem
Zeitpunkt also, zu dem noch keine Konzepte, keine Unterrichtsmaterialien
und kein dafür weitergebildetes Lehrpersonal vorhanden waren.
Im
Folgenden sollen nun aber die drei inhaltlichen Säulen der NRP
betrachtet werden, die allesamt gravierende Veränderungen für
SchülerInnen und LehrerInnen bringen und die in der Debatte über die
chaotische Vorbereitung durch das Ministerium oft zu kurz gekommen
sind:
1. Verpflichtende Vorwissenschaftliche Arbeit (VWA)
Das
verpflichtende Schreiben einer VWA als erster Teilprüfungder NRP
erzeugt bei vielen SchülerInnen enormen Stress. Weil es unmöglich ist,
während des Schularbeits- und Testmarathons von Oktober bis Dezember
konsequent an der VWA zu arbeiten, stehen dafür eigentlich nur mehr die
Weihnachts- und Semesterferien zur Verfügung. Die Schulbesuchsdichte
sinkt im Jänner jedenfalls merklich, mit Konsequenzen für die
Bewältigung der Anforderungen v. a in den Schularbeitsfächern. Der
Vorschlag von Seiten der VerfechterInnen der NRP, die SchülerInnen
könnten ja bereits in den Sommerferien bzw. im 2. Semester der 7. Klasse
an der VWA arbeiten, scheint wenig schlüssig. Die Anforderungen im 2.
Semester der 7. Klasse sind kaum geringer und in den Sommerferien zu
arbeiten heißt möglicherweise, weitgehend unbetreut zu arbeiten.
Wenn
man sich vor Augen hält, dass noch vor wenigen Jahren die Überlastung
der SchülerInnen als Vorwand genommen wurde, um massenweise und in allen
Schulstufen Unterrichtsstunden zu kürzen, muss man sich schon sehr
wundern, mit welcher Leichtigkeit die enormen Mehrbelastungen der
SchülerInnen jetzt wegdiskutiert werden.
Zudem ist der Stress nicht
gleich verteilt. Die in Österreich gut konservierte soziale Vererbung
von Bildungschancen zeigt sich auch bei der VWA: Mit Unterstützung von
kompetenten Familienmitgliedern und FreundInnen oder zugekaufter Hilfe
schreibt es sich bekanntlich wesentlich leichter…
2. Schriftliche Reifeprüfung mit zentraler Fragestellung
Während
Mathematik im Laufe der Vorbereitung der NRP immer mehr zum Sorgenfach
für SchülerInnen avancierte (viele Nachschularbeiten in der 7. und 8.
Klasse, hohe Durchfallquote bei der Matura im Vergleich zu anderen
schriftlichen Fächern, gute Schwindelmöglichkeiten aufgrund der
Aufgabenformate), stellte sich in Deutsch und den Fremdsprachen heraus,
dass der Hang nach Mess- und Vergleichbarkeit der SchülerInnenleistungen
einerseits zu völlig abstrusen Beurteilungsrastern führte und
andererseits eine tendenzielle Verflachung der Anforderungen und des auf
sie vorbereitenden Unterrichts zur Folge hatte. So beklagen
DeutschlehrerInnen die Fadesse des Textsortentrainings, die damit
verbundene Zurückdrängung der Auseinandersetzung mit literarischen
Werken und die durch den Beurteilungsraster geförderte Negierung von
Kreativität und Komplexität der Gedankenausführung.
Ähnliche Kritik
artikulieren FremdsprachenlehrerInnen, denen die Rahmenbedingungen der
NRP die Inhalte ihres bisherigen Unterrichts völlig entwerteten. Waren
bisher in Französisch Themen zur Kolonialgeschichte Frankreichs oder zur
französischen Nationalliteratur möglich, so dürfen sich jetzt die
18-Jährigen an Themen wie „Geschenke“ und dazugehörigen Fragestellungen
wie „Welche Geschenke sind wichtig für dich? Welche Geschenke schenkst
du zu welcher Gelegenheit? Beschreibe das schönste Geschenk, das du
erhalten hast“ abarbeiten. Auch hier ist das „Abrichten“ auf die
vorgegebenen Textformate erste Priorität, Kreativität und komplexes
Denken bleiben auf der Strecke. „Learning for the test“ als
schulpolitische Quintessenz des 21. Jahrhunderts…
3. Mündliche Reifeprüfung
Auch
für die mündliche Reifeprüfung gilt, dass die Interessen und
inhaltlichen Schwerpunkte der SchülerInnen keine Rolle mehr spielen. Die
LehrerInnen können Fragestellungen nicht mehr auf den/die einzelne/n
SchülerIn zuschneiden, sondern müssen sie so stellen, dass alle
KandidatInnen damit etwas anfangen können. Das führt dann immer wieder
zur Überforderung des einen und zur Unterforderung der anderen. Dass das
Erstellen von bis zu 90 Maturafragen nach neuem sog. Kompetenzmodell
für möglicherweise nur fünf KandidatInnen für die LehrerInnen auch kein
Honiglecken war und ist, sei wegen der allgemein sensiblen Stimmung in
puncto LehrerInnenarbeitszeit nur ganz leise angemerkt.
Fazit
Die
in den vergangenen Jahren festzustellende Verschulung an den
Universitäten und Fachhochschulen kehrt mit der NRP in die Schule
zurück. Das Trainieren von Teilfertigkeiten nimmt zu,
projektorientierter Unterricht mit reflektierendem Lernen sowie
selbstständigem und diskursivem Erarbeiten wird zurückgedrängt. Da nur
simple Dinge mess- und vergleichbar sind, werden die Inhalte
entsprechend angepasst. Dem Fetisch der Vergleichbarkeit werden komplexe
Inhalte, Kreativität im Lernprozess sowie individuelle Interessen und
Schwerpunkte geopfert. Konkurrenzfähigkeit soll früh gelernt sein. Und
mit einer marktförmigen Zurichtung kann nie früh genug begonnen werden.
Von
den emanzipatorischen pädagogischen Ansätzen der 70er und 80er Jahre
des 20. Jahrhunderts hat man sich damit endgültig verabschiedet.Und das
vor kurzem beschlossene neue LehrerInnendienstrecht, das die Arbeitszeit
der neuen LehrerInnen deutlich erhöht, passt gut zu dieser
Matura„reform“: Wer für weniger Geld mehr unterrichten muss, hat ohnehin
wenig Zeit und Lust auf schülerInnenzentrierten, innovativen
Unterricht. „Teaching for the test“ passt da allemal.
Bertl Gubi, unterrichtet an einer Wiener AHS und durfte schon erste Erfahrungen mit der Jahrhundertreform NRP machen
12.10.2015
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