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Conrad Schuhler untersucht in seinem neuen Buch Ursachen und Hintergründe der Fluchtbewegungen -
Eine Rezension von JENS WERNICKE, 25. Mai 2016 -
Was
läge dieser Tage näher, als den Papst zu zitieren? „Diese Wirtschaft
tötet“, proklamierte Franziskus Ende 2013. Conrad Schuhler macht in
seinem jüngsten Buch Die Große Flucht deutlich, dass der Befund
auch 2016 Bestand hat – und maßgeblich als Ursache für die derzeitigen
Fluchtbewegungen zu nennen ist. Als Vorsitzender des Instituts für
sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw) gehört es zu seinem
Handwerkszeug, Zahlenmaterial so zu liefern, dass es beim Lesen nicht
ermüdet, sondern im Gegenteil anschaulich zeigt: Wie extrem die
Verelendung hier und die Profite dort sind; wie schwindelerregend die
Gewinne der Rüstungsindustrie und anderer Kriegsprofiteure sind; wie
frappierend etwa die von der EU mit 16 Ländern vertraglich geregelte und
mit einer Milliarde Euro subventionierte Zerstörung einheimischer
Fischereiwirtschaften ist; wie weit die Austeritätspolitik auch in
Deutschland an die Existenz geht. Das Material stützt Schuhlers
Kernbotschaft: In der Flüchtlingsfrage drückt sich eine doppelte
Zweiteilung der Welt aus: in Nord und Süd, in Arm und Reich. In Zahlen:
„Der globale Bestand an Brutto-Geldvermögen war 2014 auf das historische
Rekordniveau von 135,7 Billionen Euro geklettert. … Doch: Auf die
ärmere Bevölkerungshälfte entfallen nur fünf Prozent der
Vermögenswerte.“
Das führt zum einen zu großen Fluchtbewegungen,
zumal aus jenen Ländern, die Zielscheibe westlicher Kriegspolitik sind;
zum anderen drückt die zunehmend ungleiche Verteilung auch hierzulande
auf die Stimmung. Das alte Lied: Die, die wenig haben, sollen gegen die,
die noch weniger haben, ausgespielt werden. Schuhler zeigt, dass die
Erfolge der AfD nicht aus dem Nichts rühren: „Für dieses Aufblühen des
Rassismus wurde in Politik, in Medien und im gesamten öffentlichen
Diskurs lange gesät.“ Belege dafür sind zahlreich, im Buch werden
einschlägige Aussagen angeführt von: EU-Ratspräsident Donald Tusk, Peter
Sloterdijk oder Miriam Meckel, der Chefredakteurin der Wirtschaftswoche.
Dagegen
hilft: zusammenzustehen mit jenen, die nicht in jenem gelobten Land
sind, für das es mitunter gehalten wird. Und, da die Flüchtlingsfrage
letztlich eine soziale, ja eine Klassenfrage ist: einstehen für
gemeinsame Interessen, also über die Maxime der „Willkommenskultur“
hinauszugehen. Eine „Praxis gelebter Solidarität“ habe sich bereits in
zahlreichen Initiativen gezeigt. Für weitere Perspektiven führt Schuhler
unter anderem Daniela Dahn, „Der Kapitalismus kann nur überleben, wenn
er aufhört, er selbst zu sein. Also wenn er aufhört“, oder Oscar Wilde,
„Das eigentliche Ziel ist der Versuch und Aufbau einer Gesellschaft auf
einer Grundlage, die die Armut unmöglich macht“, ins Feld. Unpassend
erscheint lediglich, auch Slavoj Žižek zum Kronzeugen zu machen, so
plausibel die verwendeten Zitate sein mögen. Möglicherweise erst nach
Drucklegung des Buches diskeditierte sich der postmoderne Philosoph
Anfang des Jahres gerade in der Flüchtlingsfrage. In seinem Spiegel-Beitrag
„Karneval der Underdogs“ erklärte er: „Brutalität, bis hin zu
Grausamkeiten gegenüber Schwächeren, Tieren, Frauen ist ein
traditionelles Merkmal der ‚niederen Klassen’.“ Und der Welt
gegenüber sagte er: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlingsströme
in geordneten Bahnen verlaufen. Etwa mit der Einrichtung von
Aufnahmezentren in den Anrainerstaaten von Syrien, aber auch in Libyen.
Dabei soll Europa auch mit dem Militär helfen.“ Positionen, die konträr
zu denen Schuhlers stehen, der gerade gegen eine westliche
Militärpolitik und einen elitären Klassendünkel eintritt.
Es
fällt schwer, sonst etwas an Schuhlers Buch zu beanstanden. Schließlich
wirft er die richtigen Fragen auf und gibt, gut begründet, auch
überzeugende Antworten, teilweise mit geradezu programmatischem
Charakter. Die „doppelte Zweiteilung der Welt in Nord und Süd sowie in
Arm und Reich“ aufzuheben: das verlangt tiefgreifende Veränderungen.
Ohne schwerwiegende Eingriffe in Eigentumsverhältnisse, die die
Besitzenden nicht freiwillig zulassen werden, wird eine Umverteilung von
Oben nach Unten nicht zu haben sein. Dass das Geld da ist, um „die
Kosten der Integration aufzubringen“, rechnet Schuhler an einfachen
Beispielen vor, beispielsweise: „Würden die deutschen Steuern auf
Immobilien, Erbschaften und Vermögen auf den Durchschnitt aller
OECD-Mitgliedsländer steigen, brächte das gut 27 Milliarden Euro im
Jahr.“ Doch wie einschneidend die Veränderungen sein müssen, damit sie
nicht mehr tötet, diese Wirtschaft, das wird bestenfalls die Praxis
zeigen.
Conrad Schuhler: Die Große Flucht. Ursachen, Hintergründe, Konsequenzen
PapyRossa Verlag,
131 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-89438-601-6
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